Viele Helden unserer Kindheit sind uns bis heute im Gedächtnis geblieben. Manche Idole wie Pippi Langstrumpf, Alf oder MacGyver stammen aus Büchern, Filmen und Serien, andere haben uns als reale Charaktere beeinflusst. Musiker, Sportler und Lehrer zählen häufig dazu. Ralf Küntges vereint gleich mehrere Rollen: Im Hauptberuf leitet er die Kindertages-stätte „Villa Gänseblümchen“ in Tönisvorst, als Gitarrist und Sänger sorgt er für gute Laune an der Rhine Side und vor dem Stadtwaldhaus. Für unsere Reihe „Wie wird man eigentlich …“ sprachen wir mit ihm über Lebensfreude, kleine und große Menschen und großartige Songs, die ihn geprägt haben.
Ohne Hut oder Mütze sieht man ihn selten, ohne Gitarre schon eher: An diesem Vormittag kommt Ralf Küntges gewohnt lässig zum Interview, im schwarzen T-Shirt, mit verwaschenen Jeans und der dunklen Kappe auf dem Kopf, die auch sein Profilbild auf Facebook ziert. Auf der Social-Media-Plattform hatte er zum Vatertag einen Steckbrief seines Sohns gepostet, der den gelernten Erzieher gleichermaßen treffend wie originell beschreibt: Lieblingsfarbe „Schwarz“, Lieblingsessen „Spaghetti“, Lieblingssong „Johnny“ (dazu später mehr), Wohnort „Geradeaus, abbiegen, geradeaus“ und Alter „45 Kartoffeln alt“ lesen wir mit einem breiter werdenden Grinsen.
Heute ist Ralf tatsächlich 46 Jahre alt, hat seine eigene Cola mitgebracht und sich so gut vorbereitet, dass wir gleich tief in seinen nicht immer geradlinigen Lebenslauf eintauchen. „Ich habe schon früh gemerkt, dass ich mit Menschen zu tun haben wollte“, erinnert er sich mit einem freundlichen und zugewandten Blick. So meldet er sich vor gut dreißig Jahren bei der Aids-Hilfe, organisiert wöchentliche Treffen bei der „Teenager-Truppe“ und verteilt Kondome, weil „das zu der Zeit en vogue war und sich richtig anfühlte“. Neben Schule und Ehrenamt singt der Hobbymusiker zur Gitarre, spielt in Schülerbands und absolviert erste Auftritte am Schulzentrum Horkesgath. Ein Benefizkonzert bestärkt ihn darin, sich im Leben sozial zu engagieren: „Mir ist wichtig, etwas Gutes zu machen. Daher habe ich mich nach der Schule für den Zivildienst entschieden.“ Doch er landet zunächst in einem Krankenhaus, wo er nur einfache Hausmeistertätigkeiten ausführen soll, was er „richtig doof“ findet. Gute Erfahrungen als Pfleger im Marienhospital, seiner nächsten Station als Zivi, bringen ihn schließlich trotz des Schichtdiensts dazu, sich an einer Pflegeschule anzumelden. „Dann sind in kurzer Zeit mehrere Menschen verstorben, und als junger Mensch war ich emotional sehr gefordert: Will ich das wirklich bis zur Rente machen?“, beschreibt Ralf seine Suche nach dem richtigen Beruf. „Musiktherapeut zu werden, hätte für mich auch gut gepasst, aber die Ausbildung war damals nur in Berlin oder in den Niederlanden möglich. Und ich fauler Junge wollte lieber noch eine Weile im Hotel Mama bleiben.“ Sein spitzbübisches Lächeln reicht von einem Ohr zum anderen.
Weil er sich gut vorstellen kann, mit Kindern zu arbeiten, entscheidet Ralf sich für das heimische Berufskolleg Vera Beckers, um sich in zwei Jahren plus Anerkennungsjahr bei der Stadt Krefeld zum Erzieher ausbilden zu lassen. „Mein Zivildienst wurde praktischerweise auf das notwendige Vorpraktikum angerechnet“, berichtet er und grinst wieder. Wer heutzutage in den Erzieherberuf einsteigen will, braucht dafür in der Regel einen mittleren oder höheren Bildungsabschluss oder eine abgeschlossene Ausbildung in einem pädagogischen, sozial- oder familienpflegerischen Beruf. In Vollzeit dauert die Ausbildung zwei bis vier, in Teilzeit drei bis sechs Jahre; sie endet mit einer staatlichen Abschlussprüfung.
Nach Ende der Ausbildung arbeiten Erzieher in Kindertagesstätten, Jugendzentren oder Wohnheimen. Bis in die Neunzigerjahre wählten fast nur Frauen diesen Beruf, auch Ralf Küntges hatte nur eine Handvoll männlicher Mitschüler. Und heute? Laut Statistischem Bundesamt sind deutschlandweit rund sieben Prozent aller pädagogischen Fachkräfte Männer, die teilweise immer noch mit Vorurteilen konfrontiert werden, wie in vielen Presseberichten nachzulesen ist. „Meine Eltern waren schon sehr offen für meine Berufswahl, doch in der Verwandtschaft gab es wenig Verständnis nach dem Motto: ,Wat spielste denn mit den Klötzkes, ein Mann muss doch Geld verdienen!’“, spielt Ralf auf das traditionelle Rollenverständnis an. „Heute ist es zum Glück normal, dass beide arbeiten, und es hat das Ansehen des Berufs sehr gesteigert, dass Kitas mit dem KiBiz als Bildungseinrichtung anerkannt wurden. Dieses Gesetz war ein Quantensprung, denn in der Kita wird ja nicht nur gespielt und gewickelt.“ Die Förderung von Bewegung, Sprache, Ernährung, Medienwissen oder Ökologie gehörten beispielsweise zu den zehn Bildungsbereichen für starke Kinder.
Bei der Frage, welche Voraussetzungen man für den Beruf mitbringen sollte, muss der heutige Leiter eines Familienzentrums nicht lange überlegen: „Man sollte ein positiv gestimmter und authentischer Mensch sein, der auch mal einen schlechten Tag haben darf, und vor allem Freude daran haben, mit Kindern zusammen zu sein. Wir haben – genau wie Eltern oder Trainer – eine große Macht, mit der wir verantwortungsvoll umgehen müssen.“ Die tragische Geschichte einer Zehnjährigen, die vor Jahren regelmäßig in seinen Kinderhort gekommen war und dann plötzlich nicht mehr, berühre ihn noch heute. „Sie lebte in eher schwierigen Verhältnissen, und wir hatten immer einen guten Draht zueinander gehabt. Ich fand heraus, dass ihre Mutter sich erhängt hatte. Als ich auf dem Schulhof auftauchte, lief mir das Mädel sofort entgegen und erzählte mir alles. Es geht darum, dass Erwachsene für kleine Menschen da sind und sie nicht nur erziehen. Das ist ein wichtiges Gefühl“, sagt er nachdenklich, während seine Augen dunkel glänzen unter der Kappe.
In Tönisvorst hat der Familienvater vor fünf Jahren nicht nur eine neue berufliche Heimat gefunden. Seine langjährigen Erfahrungen aus Heim, Hort und Jugendtreff gibt er nun an sein 22-köpfiges Team weiter. „Als Leiter habe ich mehr mit den großen Menschen zu tun“, schmunzelt er. „Kollegen und Eltern, das sind jetzt quasi meine Kinder.“ Auch in dieser Funktion sei der Umgang mit Macht „immens“ wichtig, denn er könne als Chef die Mitarbeiter mit Dienstplänen „in den Wahnsinn treiben“ oder sie motivieren und mit Fingerspitzengefühl „etwas aus ihnen herauskitzeln“. Für die Eltern manage er die Kita als Dienstleistungsbetrieb, der in den Sommerferien geöffnet bleibe und mit einem guten Angebot überzeuge. „Natürlich gehört ein Singkreis dazu“, lächelt Küntges. Gleich zu Beginn der Pandemie schrieb der Vollblutmusiker den Song „Ich schick dir einen Regenbogen“, um trotz des Lockdowns Zuversicht zu verbreiten. Und er ließ sich in dieser Zeit einiges einfallen: Konzerte in Garageneinfahrten, Mitsingaktionen auf Schulhöfen oder Weihnachtslieder in der Weinbar.
Einige Songs stehen bei seinen Auftritten als Solokünstler oder mit der Band „The Good Times“ regelmäßig auf der Setlist: „Über den Wolken“ von Reinhard Mey, „All Shook Up“ von Elvis und „Johnny B. Goode“ von Chuck Berry. Schuld daran seien Musikkassetten des Vaters, alte Filme von Elvis und der Soundtrack zum Klassiker „Zurück in die Zukunft“, in dem es Marty McFly aus dem Jahr 1985 in die Fünfziger verschlägt. „Ich habe als Kind bei ‚Johnny B. Goode‘ erst geglaubt, dass es ein Song von Schauspieler Michael J. Fox ist. Bis ich im Urlaub eine Kassette fand, die die Version von Chuck Berry enthielt. Früher gab es ja noch kein Spotify.“ Da ist es wieder, das verschmitzte Lächeln. Wir könnten noch stundenlang über Songs, Geschichten und Musiker philosophieren: über „American Pie“, Buddy Holly, den „genialen Typen“ Ed Sheeran. Für heute soll es reichen. Auf dem Radweg nach Hause schleicht sich „Heroes“ von David Bowie ins Ohr. Ralf Küntges würde sich selbst wohl nie als „Held“ bezeichnen. Doch bestimmt finden sich in der Region viele kleine und große Fans, für die er schon längst ein Vorbild ist.